Gesundheit und Partizipation im Stadtteil

Letztes Jahr hatten wir im Rahmen des Kiezthemas „Gesundheit“ einen interessanten Workshop mit Nils Merten, Student der Gesundheitswissenschaften und Nachbar. Er hat sich unseren Kiez in einer partizipativen Untersuchung genauer angeschaut und verfasste seine Bachelorarbeit zum Thema „Die Bedeutung von Quartiersmerkmalen für die Gesundheit“. Für die Untersuchung war ebenso unsere Expertise, Sichtweise und auch Funktion als Multiplikator gefragt.

 

„Eine partizipative Untersuchung mit Anwohnern und Anwohnerinnen des Kottbusser Tors in Berlin“ und trägt so mit seinem Forschungsvorhaben zu den aktuellen gesundheitswissenschaftlicheren Diskussionen um Urban Health, Stadtentwicklung, Gesundheitsförderung, Umweltgerechtigkeit und Gesundheitsversorgung bei.“

 

Eine Zusammenfassung von „Gesundheit und Partizipation im Stadtteil“

 

Städte sind der vorherrschende Lebensraum der Menschheit und die zentrale Organisationsform menschlichen Zusammenlebens. Die anhaltende Urbanisierung koinzidiert dabei mit anderen gesellschaftlichen Herausforderungen. Städte und ihre Quartiere bilden die Umwelt der in ihnen lebenden Populationen und nehmen in der Perspektive von Public Health eine Schlüsselrolle in der Gesundheitsförderung der Stadtbevölkerung ein. Das Quartier Zentrum Kreuzberg besticht durch Vielfalt hinsichtlich seiner sozialen, ökonomischen und baulich-räumlichen Ausgangslage. In einem partizipativen Forschungsansatz wurde mit Hilfe eines Community Mappings eine Karte mit gesundheitlich relevanten Quartiersmerkmalen erstellt. Das Quartier weist in Bezug auf Gesundheit Potentiale und Ressourcen auf. Gleichzeitig besteht eine hohe Dichte an Problemlagen. Zentrale Kritik wird an aktuellen Beteiligungsverfahren über Gesundheit und Stadtentwicklung betreffende Themen geäußert. Eine nachhaltige Gesundheitsförderung in der Kommune ist dabei nur durch Gesundheitsförderung mit den Menschen in der Kommune möglich.

 

Schlüsselwörter: Urban Health, partizipative Gesundheitsforschung, Kottbusser Tor Berlin, health in all policies, Stadtplanung

 

Formen der Partizipation

 

 

Eine zentrale Frage für partizipative Prozesse ist, unter welchen Bedingungen Partizipation tatsächlich gegeben ist und woran Teilnehmer*innen bei Forschungsprozessen genau beteiligt sind. So lässt sich etwa die Beteiligung akademischer Partner*innen an zu untersuchenden gesellschaftlichen Prozessen einfacher bestimmen als die Beteiligung von Akteur*innen aus den Lebenswelten an wissenschaftlichen Prozessen (von Unger 2014).

 

Im Sinne der Ottawa-Charta bedeutet Partizipation Teilhabe und nicht nur Teilnahme.

 

Partizipation geht also über die bloße Anhörung oder Einbeziehung von Betroffenen hinaus und zielt mit Hilfe von Maßnahmen zum Empowerment eben auch auf die Mitbestimmung,

 

Entscheidungskompetenz und Definitionsmacht der Beteiligten (Wright et al. 2010a). Von Unger weist darauf hin, dass der Grad der Beteiligung im Verlauf eines Forschungsprozesses unterschiedliche Formen annehmen und auch fluktuieren kann: „Teilweise muss Beteiligung erst ermöglicht und aufgebaut werden, teilweise wird im Forschungsprozess das Ausmaß der Beteiligung flexibel reduziert und angepasst.“ (von Unger 2014, S. 38). Wright et al. entwickelten 2010 aus ihren Forschungen zu Gesundheitsförderung und Partizipation ein hierarchisches Modell verschiedener Stufen von Partizipation (Abbildung 3). Dieses Modell bildet auch sämtliche in der Praxis der Gesundheitsförderung vorkommenden Formen der Partizipation ab (Wright et al. 2010a). Wright et al. weisen darauf hin, dass alle Stufen – mit Ausnahme der Instrumentalisierung – in der praktischen Gesundheitsförderung ihre Berechtigung haben und positiv assoziiert sind (Wright et al. 2010a). Dennoch sollte in der Gesundheitsförderung eine möglichst hohe Stufe der Partizipation angestrebt werden.

 

 

Diskussion und Fazit der Teilnehmer*innen

 

Der Workshop zum Community Mapping endete mit einer knapp 40-minütigen Diskussion

der Teilnehmer*innen über die Ergebnisse der von Ihnen gezeichneten Karte und den daraus entstandenen Aushandlungsprozessen und Überlegungen. Bei der inhaltsanalytischen Auswertung des Transkripts dieser Diskussion wurden fünf Kategorien identifiziert.

 

Kategorie 1: Infrastruktur des Quartiers

Kategorie 2: Ressourcen und Problemlagen

Kategorie 3: Stadtentwicklung und Verdrängung

Kategorie 4: Community

Kategorie 5: Partizipation und Beteiligungsverfahren

  • Die Gruppe war sich einig, dass Verbesserungen im Kiez für alle Bewohner*innen spürbar sein müssten
  • Negativ wurde angemerkt, dass vieles, was das Quartier lebenswert mache, durch den verstärkten Wegzug verloren gehe.
  • Herausgestellt wurde, dass soziale Netzwerke und soziale Orte gerade für ältere Bewohner*innen wichtig sind.
  • Die Netzwerkarbeit wurde als etwas Schönes empfunden, da sie einen direkten Austausch mit verschiedenen Menschen auf der Straße und nicht nur am Schreibtisch ermögliche.

Neben den Aussagen zur Community nahm die Diskussion über Partizipation und Beteiligungsverfahren in der Gruppendiskussion eine zentrale Rolle ein.

 

Inhaltlich korrespondierten die Aussagen mit den Bemerkungen über den fehlenden Einfluss von Anwohner*innen auf politische und wirtschaftliche Entscheidungen. Beteiligungsverfahren wurden kritisiert, da diese oftmals nicht ihrem eigentlichen Zweck entsprächen. Es wurde angemerkt, dass Beteiligungsverfahren professionell durchmoderiert würden und der damit verbundene Aufwand Menschen, Ressourcen und Energien auf unterschiedlichen Ebenen „verheize“, was zu Frust bei den Beteiligten führe. Diese Tendenz müsse gestoppt oder zumindest immer wieder thematisiert werden. Beteiligungsrunden müssten kritisiert werden:

 

Partizipation sei mittlerweile eine Forderung, die auch in den Leitlinien formuliert sei, die beispielsweise von den QMs angewendet werden müsse und daher Teil der politischen Verpflichtungen sei. Dazu wurde weiter ausgeführt, dass eine Moderation von Partizipationsverfahren Menschen ausschließe. Einige Teilnehmer*innen führten aus, dass Beteiligungsverfahren oftmals nur dazu dienen, sich von den Anwesenden eine Legitimierung für bereits im Voraus feststehende Konzepte einzuholen:

 

Die Bürgerbeteiligung diene oftmals nur der eigenen Legitimation und der positiven Außendarstellung, Partizipation würde also vor allem für die eigenen politischen Zwecke genutzt. Auch die QMs oder übergeordnete Strukturen, wie die „Soziale Stadt“ bekämen ihre die Themen vorgegeben. Die Festlegung, welche Themen behandelt werden, verlaufe also top-down.

 

Zudem bestehe ein Bedarf an echter Teilhabe, der sich aber nicht auf das Lesen von Ergebnisprotokollen reduzieren lasse, sondern eine tatsächliche Mitsprache bei Beteiligungsverfahren erforderlich mache. Meinungen und Gegenpositionen müssten angehört und öffentlich wahrgenommen werden. Die Teilnehmer*innen waren sich einig über das Ziel, in diesen Beteiligungsverfahren ein paralleles, eigenes Meinungsbild abzugeben und dieses von unten, also von der Basis zu organisieren. Die Abhängigkeit von Fördermitteln und der Zwang zum Mitmachen bei Beteiligungsverfahren belasten die Teilnehmer*innen:

 

Beteiligungsprozesse dürften nicht zu Verdrängung führen. Eigeninitiative sei nötig, um sich dagegen wehren zu können. Die Frage, wie man mit allen Initiativen gemeinsam Verbesserungen im Kiez schaffen könne, von denen alle profitieren können, war für die Akteur*innen ein zentrales Anliegen. Als schwierig empfanden alle Beteiligten

die Frage, wie eine Verknüpfung der Ein-Punkt-Themen und -Initiativen zu einem großen Ganzen gelingen kann – in respektvollem Umgang miteinander und trotz der geringen Ressourcen. Die einzige Chance, die von der Gruppe gesehen wurde, liege in der Vernetzung. Diese könne dazu beitragen, sich nicht machtlos zu fühlen. Oftmals entstünde der Eindruck, dass Eigeninitiative nichts gegen politische Entscheidungen ausrichten könne. Der Zusammenschluss wurde daher als einzige Chance gesehen.

 

Diskussion der Ergebnisse und Einbettung in den wissenschaftlichen Kontext

 

Durch den Workshop und das Community Mapping konnten von den Akteur*innen gesundheitlich relevante Merkmale des Quartiers identifiziert und bestimmt werden. Dabei lassen sich zwei wesentliche Aussagen festhalten:

 

1. Das Quartier verfügt in Bezug auf die Gesundheit und das Wohlbefinden seiner Bewohner* innen über eine gute Infrastruktur und weist eine Vielzahl von Ressourcen und Potenzialen auf.

 

2. Das Quartier ist durch eine hohe Dichte an Problemlagen belastet, die sich negativ auf die Gesundheit und das Wohlbefinden der Anwohner*innen auswirkt. Umwelt- und soziale Belastungen gaben die Beteiligten als Hauptursache für Beeinträchtigungen der Gesundheit an. Gesundheitserhaltende und gesundheitsförderliche Ressourcen und Stärken ergäben sich aus den sozialen Netzwerken, durch Bildungs- und Beratungsstellen sowie innerhalb der Community. Klassische Themen der Gesundheitsförderung, wie beispielsweise Bewegung oder Ernährung spielten bei den Ergebnissen keine Rolle. Die im Rahmen der Gruppendiskussion geäußerte Kritik an Beteiligungsverfahren führt zu zwei weiteren Ergebnissen, die Rückschlüsse auf die sozialen, und (Gesundheits-)politischen Merkmalen des Quartiers zulassen.

 

3. Beteiligungsverfahren, die im Zuge von gesundheitsspezifischen, sozialräumlichen und wirtschaftlichen Projekten bzw. Maßnahmen durchgeführt sind, bieten lediglich formal eine Partizipationsmöglichkeit. Faktisch dienen sie zur Legitimation der Umsetzung bereits fertiger Konzepte durch die Bewohner*innen.

 

4. Die Anwohner*innen und Initiativen haben keinen für sie spürbaren Einfluss auf politische oder wirtschaftliche Entscheidungen in ihrem Quartier. Wesentliche Aspekte von Partizipation und Governance, wie sie beispielsweise im Healthy Cities Project der WHO beschrieben werden, scheinen hier ignoriert zu werden. Dort heißt es unter anderem: „A healthy city aims to provide: a high degree of participation in and control by the citizens over the decisions affecting their lives, health and wellbeing.“(WHO 2018).

 

Ein Großteil der geschilderten Problemlage findet sich dabei bereits im Bericht des QM´s wieder. Die Ergebnisse dazu konnten somit erwartet werden bzw. haben keine zusätzlichen Erkenntnisse gebracht. Überraschend und für die Bedeutung dieser Arbeit aussagekräftig sind hingegen die unter 3 und 4 festgehalten Ergebnissen und die zentrale Kritik an aktuellen Formen von Beteiligungsverfahren. Im Folgenden werden die Ergebnisse in der Reihenfolge der vier vorgestellten Kernaussagen interpretiert und in den Kontext der aktuellen Forschung gestellt.

 

Zunächst einmal weist das dicht besiedelte Quartier Zentrum Kreuzberg eine gute Infrastruktur auf. In Bezug auf die räumliche Infrastruktur ist das Quartier durch kurze Wege charakterisiert. Orte, Grünflächen, Gewerbe sowie die ausreichend vorhandenen medizinisch- pflegerischen Einrichtungen sind in der Regel fußläufig erreichbar. Schlicht (2017)listet insgesamt zwanzig gesundheitlich relevante Strukturmerkmale auf. Dazu gehören auch fußläufig erreichbare Behörden und Dienste sowie kurze Wege zu Geschäften. Im Quartier ist der Zugang allerdings oftmals durch große und vielbefahrene Straßen erschwert. Insbesondere die Zergliederung des Quartiersdurch die Skalitzer Straße in einem nördlichen und einen südlichen Teil trennt nördliche Wohngebiete vom Ufer des Landwehrkanals zwischen Baerwaldbrücke und Kottbusser Brücke. Hier befindet sich ein großes Grünflächenareal im Einzugsgebiet, das sich vor allem für Sport und Bewegung gut eignet. Weitere gesundheitlich relevante Strukturmerkmale sind sichere Wege, in Verbindung mit einer gut ausgebauten Geh- und Radwegstruktur (Schlicht 2017). Zwar wurden die Grünflächen und Spiel-/Sportplätze im Quartier als nicht ausreichend bzw. verbesserungswürdig beschrieben, gleichzeitig wurde ihnen aber ein hohes Potenzial für Gesundheit und Erholung zugeschrieben. Dies gilt es zukünftig verstärkt zu nutzen. Stadtgrün und Stadtnatur sind zentrale Ressourcen für die Abmilderung gesundheitlicher Belastungen, und zwar unabhängig vom sozialökonomischen Status (Baumeister; Hornberg 2016). Auch Gewässer, wie der Landwehrkanal oder Wasserquellen (Trinkbrunnen) – die analog zum Stadtgrün als Stadtblau bezeichnet werden – tragen zum physischen und psychischen Wohlbefinden bei (Völker et al. 2012). Bäume, Sträucher und Hecken spenden zudem Schatten und helfen, die Auswirkungen des Klimawandels in den Städten (vgl. Kapitel 3.1) abzumildern. Der Anschluss an den öffentlichen Nahverkehr, der durch die U-Bahnlinien 1 und 8 gegeben ist, ist positiv zu bewerten, da er zur Mobilität und zum sozialen Austausch beiträgt. Mit Einschränkungen gilt dies auch für die gute Anbindung an das Bussystem. Die Einschränkung besteht darin, dass die Linienbusse in der vielbefahrenen und engen Oranienstraße zur Verkehrsbelastung beitragen. Als Infrastruktur bezeichneten die Akteure*innen in erster Linie die soziale Infrastruktur im Kiez, der eine große Dichte an Initiativen, Projekten, Bildungs- und Beratungseinrichtungen aufweist. Ersichtlich wird dies an der Tatsache, dass sich mehr als die Hälfte der grünen Sticker auf der Karte auf solche Orte beziehen. Dazu sind auch die Verweise auf die Menschen und das solidarische Miteinander im Kiez zu rechnen. In der Literatur finden sich deutliche Belege dafür, dass soziale Bindungen, soziale Unterstützung und sozialer Austausch eine gesundheitsprotektive Ressource darstellen. Das gegenseitige Vertrauen und die Kooperation der einzelnen Mitglieder bildet das soziale Kapital der Community (Schlicht; Zinsmeister 2015). Die soziale Qualität von Nachbarschaften stellt eine Netzwerkressource dar, die negative Auswirkungen auf Gesundheit und Wohlbefinden abmildern oder ihnen protektiv begegnen kann. Public Health sollte daher die soziale Struktur und das soziale Kapital in der kommunalen Gesundheitsförderung berücksichtigen (Dragano 2012). Dennoch ist auch zu erwähnen, dass sich eine defizitäre soziale Qualität oder eine defizitäre soziale Struktur von Nachbarschaften und Communities auch negativ auf Gesundheit und Wohlbefinden auswirken können (Schlicht 2017). Beispiele hierfür sind Gewalt, Kriminalität oder Rauschmittelkonsum. Die Teilnehmer*innen stellen in ihren Aussagen die Bedeutung der Menschen im und für den Kiez besonders heraus. Sie befürchten, dass durch Verdrängung, Wegzug und die Veränderung der Bewohner* innen-Struktur das besondere soziale Kapital im Kiez verschwindet. Dies nehmen die Teilnehmer*innen des Workshops als Bedrohung wahr. Die Skalitzer Straße, der Verkehrsplatz ums Kottbusser Tor sowie die Oranien- und Adalbertstraße weisen ein hohes Verkehrsaufkommen auf und sind die Unfallschwerpunkte im Quartier. Motorisierter Individualverkehr erzeugt eine große Menge an Schadstoffen, darunter Schwefeldioxid (So2), Kohlenmonoxid (CO), Stickoxide (NO und NO2), Ozon (O3) sowie Feinstaub in unterschiedlichen Partikelgrößen. Luftschadstoffe werden mit einer Vielzahl gesundheitsschädigender Wirkungen von Atemwegserkrankungen über kardiopulmonalen Erkrankungen bis zu dementiellen Erkrankungen in Zusammenhang gebracht (Schlicht 2017). Die Diskussionen um Diesel-Fahrverbote oder die Einführung von Tempo-30-Zonen auf Hauptstraßen deutscher Großstädte zeigen die Aktualität dieser Thematik. Von der Europäischen Union festgelegte Grenzwerte für Luftschadstoffe werden dabei, wie es auch eine Teilnehmerin in der Gruppendiskussion äußerte, in vielen europäischen Städten ohne wirkliche Konsequenzen regelmäßig überschritten (Schlicht 2017). Das starke Verkehrsaufkommen führt auch zu einer erhöhten Lärmbelastung, die in der Regel als störender Lärm wahrgenommen wird, der sich negativ auf die physische und psychische Gesundheit auswirkt. Luftschadstoffe und Lärm sind besonders für vulnerable Gruppen wie Kinder, Ältere und Kranke eine besondere Belastung (Schlicht 2017).

 

Aufgrund der sozialräumlichen Unterschiede in der Verteilung von Umweltbelastungen sind von diesen häufig Wohnviertel mit einer hohen sozialen Belastung sowie Bewohner*innen betroffen, denen ein niedriger sozialökonomischer Status zugeschrieben wird (Hornberg; Pauli 2012). Das Quartier weist einen Arbeitslosenanteil von 10,8 % auf. Der Anteil von Hartz IV Bezieher*innen beträgt 42 % und die Kinderarmut im Kiez wird mit 65,1 % angegeben (vgl. Tabelle 1). Gentrifizierung führt zu Mietpreiserhöhungen und Immobilienspekulationen, die Ausrichtung der gastronomischen Infrastruktur an Touristen* innen führt zur einer Aufwertung von Cafés und Lokalen, die sich in höheren Preisen niederschlägt. Eine soziale Teilhabe wird dadurch für viele Bewohner*innen erschwert und macht für einen Teil das Leben im Kiez sogar unmöglich.

 

Der Tourismus ist aus Sicht der Kiezbewohner*innen ein zunehmendes Problem. Zum einem verdrängt die bereits erwähnte Konzentration der Infrastruktur auf die Belange von Tourist*innen andere Gewerbe sowie günstigen Wohnraum aus dem Quartier. Zum anderen bringt die hohe Anzahl von Touristen*innen ein erhöhtes Müllaufkommen und einen gesteigerten Lärmpegel mit sich. Die erhöhte Gastronomiedichte führt zu Geruchsbelastungen. Hinterhöfe, die vormals für viele Kiezanwohner*innen ein Rückzugsort waren, werden zunehmend durch Mülltonnen der Gastronomiebetriebe vereinnahmt.

 

Aus den beschriebenen Problemlagen lassen sich gesundheitsgefährdende Merkmale ableiten, die für das Quartier charakteristisch sind. Deutlich wird dabei, dass diese Merkmale sozialer Natur sind und damit politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen unterliegen.

 

Allerdings haben die Bewohner*innen den Eindruck, auf diese Entscheidungen keinen oder nur einen geringen Einfluss zu haben. Individuelle, Verhaltensorientierte Maßnahmen der Prävention oder der Gesundheitsförderung spielen in den Ergebnissen des Workshops keine Rolle. Diskutiert wurde eine Verbesserung des sozialen und umweltbedingten Wohlbefindens der Menschen. Dies gilt als Voraussetzung für eine Verbesserung der physischen und psychischen Gesundheit und Lebensqualität der Bewohner* innen im Quartier. Eine Verbesserung der Problemlagen in dieser Dimension lässt sich nur durch die Zusammenarbeit der Akteure*innen in den Initiativen mit den politischen oder wirtschaftlichen Entscheidungsträgern*innen erreichen. Tatsächlich aber war die Kritik an der mangelnden Partizipation und den unzureichenden Beteiligungsformaten ein zentraler Punkt der Gruppendiskussion. Von Unger (2014, S. 97) weist daraufhin, dass Beteiligungsverfahren nicht aus rein forschungspraktischen oder strategischen Gründen angewendet werden sollen, sondern dass auch emanzipatorische Kriterien sowie die Gleichberechtigung aller Partner*innen bei der Prozess-und Zielsetzung zu berücksichtigen seien. Fehlen diese Voraussetzungen, würde es sich um eine Manipulation von Beteiligungsverfahren und demnach um eine Scheinpartizipation handeln (ebd.). Die Kernaussage der Gruppendiskussion deutet genau darauf hin: Beteiligungsverfahren scheinen im Trend zu liegen. Allerdings berücksichtigen die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträger*innen den Aussagen der Teilnehmer*innen zufolge nicht die Belange derjenigen, die in diesen Verfahren eigentlich befragt werden sollten. Die community basierte partizipative Gesundheitsforschung erkennt im Unterschied dazu die Community als identitätsstiftende Einheit an und unterstreicht die gleichberechtigte Zusammenarbeit in allen Phasen des Projekts. Außerdem berücksichtigt sie Stärken und Ressourcen des Quartiers und betont die lokale Relevanz von Gesundheitsproblemen inklusiver deren zugrundeliegenden sozialen und ökologischen Determinanten (Israel et. al 2003). In der Literatur gibt es entsprechende Befürchtungen über die Aufgabe eines (Herrschafts-) kritischen, emanzipatorischen Ansatzes zugunsten einer Vereinnahmung partizipativer Forschungsmethoden seitens politischer und wirtschaftlicher Eliten, mit dem Ziel, den Status Quo zu legitimieren (Reason, Bradbury 2008, zitiert nach von Unger 2014). Standardisierte Beteiligungsverfahren sowie die von den Akteur*innen beschriebene Forderung nach einer Umsetzung von Partizipation, widerspricht daher den Grundprinzipien partizipativer Verfahren und raubt diesen das freiwillige Moment. Wirkliche partizipative Gesundheitsforschung kann jedoch dazu beitragen, sozial bedingte Disparitäten von Gesundheitserhaltung und Krankheitsverhütung zu verringern (Rosenbrock 2010). Sie bietet damit eine Chance, gesundheitliche Chancen im Quartier Zentrum Kreuzberg für alle nachhaltig zu verbessern. Es hat sich gezeigt, dass wesentliche Ergebnisse des Workshops und der vorliegenden Arbeit bezüglich der gesundheitsförderlichen und gesundheitsbelastenden Merkmale des Quartiers mit der aktuellen Literatur zu Urban Health, kommunaler Gesundheitsförderung und partizipativer Gesundheitsforschung übereinstimmen. Das gilt insbesondere insofern, als das individuelle, verhaltensorientierte Positionen in den Ergebnissen keine Rolle spielen. Vielmehr ist es so, dass die Themen Gesundheit und Wohlbefinden aus der Sicht der Akteur*innen des Quartiers eine gemeinsame Aufgabe im Sinne der Governance darstellt und soziale Disparitäten aufgelöst werden müssen.

 

Fazit: Gesundheit – privates oder gesellschaftliches Gut?

 

 

Krankheit stellt zugleich ein individuelles als auch ein gesellschaftliches Risiko dar. Dementsprechend sollte angenommen werden, dass Gesundheit ebenso sowohl als individuelles wie auch als gesellschaftliches Gut betrachtet wird. Oder betrachtet werden sollte? Es hat den Anschein, als sei es in den letzten Jahrzehnten eher zu einer Privatisierung von Gesundheit gekommen. Zu erkranken oder gesund zu bleiben, scheint primär eine Frage des individuellen Schicksals oder individuellen Verhaltens zu sein. Oder der finanziellen Möglichkeiten. Auch Ansätze von Public Health in Deutschland zur Prävention oder Gesundheitsförderung vertreten schwerpunktmäßig eine verhaltensorientierte Agenda. Klassischerweise bezieht sich diese auf die Bereiche Ernährung, Bewegung und Genussmittelkonsum. Durch die zunehmenden Diskussionen über soziale Disparitäten und Umweltgerechtigkeit, ungleiche Bildungschancen und die damit zusammenhängenden negativen Auswirkungen auf Gesundheit sowie Wohlbefinden und Krankheitsverteilung, richtet sich der Blick in jüngster Zeit jedoch auch verstärkt wieder auf die Lebensverhältnisse von Menschen. Und diese Lebensverhältnisse sind immer häufiger urban. Die Frage nach urbaner Lebensqualität und der Gestaltung lebenswerter Städte wird dabei zukünftig eine zentrale Perspektive von Public Health Strategien sein. An diesem Punkt zeigt sich deutlich, dass körperliche, seelische und soziale Gesundheit eben nicht nur eine Frage des Schicksals oder der individuellen Lebensführung ist, sondern auch eine Frage der Möglichkeit der Teilhabe an Gesundheit. Gesundheit ist im großen Maße eine soziale Frage, und damit auch eine politische. Aus den Ergebnissen dieser Arbeit wird deutlich,dass die „gesunde Stadt“ oder das „gesunde Quartier“ nur mit den dort lebenden Menschen entwickelt und erreicht werden kann. Die Kritik an derzeitigen Formen von Beteiligungsverfahren und die geäußerte Angst davor, dass diese von der Stadt initiierten partizipativen Verfahren zur sozialen Verdrängung der eigentlichen Zielgruppe führen, sollte von den politisch Verantwortlichen ernst genommen und bei ihrem Vorgehen berücksichtigt werden. Auch der Appell nach einer stärkeren politischen Regulation ökonomischer Interessen, etwa bezogen auf den Tourismus oder den Wohnungsmarkt zeigt den Wunsch der Anwohner*innen nach einer stärkeren politischen Einflussnahme in ihrem Sinne. Nur durch diese wird es gelingen, Städte und ihre Quartiere lebenswert, nachhaltig, fair und damit auch gesund zu gestalten. „Die Medicin ist eine sociale Wissenschaft“, schrieb der Mediziner und Politiker Rudolf Virchow bereits 1848 (Virchow 2010 [1848]).